Von: Alexandra Grigorescu/ GICJ


Einleitung

Schon viel zu lange leidet Palästina unter abscheulichen Menschenrechtsverletzungen und Missbrauch des humanitären Völkerrechts in Folge der brutalen Besetzung des Territoriums. Trotz zahlreicher Resolutionen der Vereinten Nationen, begeht die Besatzungsmacht Israel weiterhin in alarmierendem Ausmaß systematische und schwerwiegende Völkerrechtsverletzungen. Israelische Militäreinheiten vertreiben Palästinenser gewaltsam von ihren Territorien mittels organisierter Abrisse von Siedlungen im Westjordanland. Zudem verschärft die Blockade von Gaza die soziale und ökonomische Krise.

Die fehlende Rechenschaft für die schweren Verstöße im besetzten palästinensischen Gebiet und die mangelnde Bereitschaft, die Taten in Gaza, im Westjordanland und in Ost- Jerusalem zu untersuchen, hat zu weiteren Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht und Völkerstrafrecht geführt.

Am 20. Dezember 2019 kündigte der Strafverfolgerin des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) die Einleitung von Untersuchungen der Situation in Palästina an und stellte fest, dass die rechtlichen Kriterien gemäß des Rom Statuts erfüllt seien, sodass eine Untersuchung beginnen könne. Am 22. Januar 2020 beantragte die Anklagebehörde gemäß Artikel 19 (3) ein Urteil über die territoriale Zuständigkeit des Gerichts in Palästina.

Am 5. Februar 2021 beschloss die erste Kammer des IStGH schließlich mehrheitlich, dass die territoriale Zuständigkeit des Gerichts für die Situation in Palästina sich auch auf die von Israel seit 1967 besetzten Territorien Gaza, Westjordanland und Ost-Jerusalem erstreckt, da der Staat Palästina Vertragspartei des Rom Statuts ist.

 

Hintergrund der Situation in Palästina

Am 3. März 2021 eröffnete der IStGH eine Untersuchung der Kriegsverbrechen in Palästinensischen Gebieten einschließlich der Zeit des Gaza-Kriegs 2014. Fatou Bensouda, die Chefanklägerin, sagte, das Gericht schaue sich Verbrechen an, die mutmaßlich seit dem 13. Juni 2014 begangen worden seien[1]. Diese Untersuchung erfolgt nun nach fast fünf Jahren Beratungen, ob der IStGH zuständig ist, die mutmaßlichen Verbrechen zu untersuchen. Die Situation in Palästina wurde bereits seit dem 16. Januar 2015 vorläufig untersucht[2].

Vorläufige Gerichtsbarkeitsfragen

Am 1. Januar 2015 gab die Regierung von Palästina eine Erklärung gemäß des Artikels 12(3) des Rom-Statuts ab, in der sie die Zuständigkeit des IStGH bezüglich der mutmaßlichen Verbrechen, die „in den besetzten palästinensischen Gebieten einschließlich Ost-Jerusalem seit dem 13. Juni 2014“ begangen worden sind, akzeptierte. Für den Staat Palästina wurde das Rom Statut am 1. April 2015 rechtskräftig.

Kontext

GAZA

Israel gewann Kontrolle über das Territorium Gaza in Folge des Sechstagekriegs 1967. Im September 2005 schloss Israel seinen unilateralen Rückzug aus Gaza ab und behauptet seither keine Besatzungsmacht mehr zu sein. Nichtsdestotrotz liegt der Schluss nahe, dass Israel weiterhin, aufgrund seiner weitreichenden Kontrolle, die es über das Territorium Gaza behalten hat, eine Besatzungsmacht ist.

Mit dem Wahlsieg der Hamas 2006 und der erweiterten Kontrolle 2007, wurde das Territorium von einer Welle der Kampfhandlungen zwischen Israel, der Hamas und anderen bewaffneten palästinensischen Gruppen, die in Gaza präsent sind, getroffen.

2014 wurde Gaza erneut Opfer von Auseinandersetzungen, bezeichnet als „Der Gaza-Konflikt 2014“. Am 7. Juli 2014 startete Israel die ‘Operation Protective Edge’, die 51 Tage andauerte und zum Ziel hatte, die militärischen Kapazitäten der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen in Gaza auszuschalten. Diese Operation hatte drei Phasen: die ursprüngliche Phase (fokussierte sich auf Luftangriffe), eine Operation am Boden am 17. Juli und abwechselnd Waffenstillstand und Luftangriffe am 5. August.

Am 26. August 2014 endeten die Kampfhandlungen und beide Seiten einigten sich auf eine bedingungslose Waffenruhe.

Im Anschluss daran strengten verschiedene nationale und internationale Behörden Untersuchungen zu den Vorkommnissen des Gaza-Konflikts an, wie die unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zum Gaza-Konflikt 2014, die zentrale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu bestimmten Vorkommissen im Gazastreifen zwischen dem 8. Juli und 26. August 2014, der militärische Generalstaatsanwalt der israelischen Streitkräfte und das unabhängige palästinensische Nationalkomitee.

WESTJORDANLAND UND OST-JERUSALEM

Infolge des Sechstagekriegs erhielt Israel die Kontrolle über das Westjordanland und Ost-Jerusalem und begann Anordnungen zu übertragen und so israelisches Recht, Gerichtsbarkeit und die Verwaltung auf Ost-Jerusalem auszuweiten. Am 30. Juli 1980 verabschiedete das israelische Parlament ein „grundlegendes Gesetz“, das die Stadt Jerusalem „komplett und geeint“ als Hauptstadt Israels manifestiert.

Diese Annektierung Ost-Jerusalems wurde unter anderem vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und vom IStGH als Verstoß gegen Völkergewohnheitsrecht gewertet, welches die militärische Übernahme von Territorium verbietet.

Gemäß des Oslo-Abkommens von 1993-1995 erkannten die Palästinensische Befreiungsorganisation und der Staat Israel einander an und einigten sich auf eine schrittweise Übergabe bestimmter palästinensisch besiedelten Gebiete im Westjordanland an die Palästinensische Autonomiebehörde.

Gemäß des vorläufigen Abkommens 1995 wurde das Westjordanland in drei Verwaltungszonen unterteilt:

  • Gebiet A mit vollständiger ziviler- und Sicherheitskontrolle durch palästinensische Behörden
  • Gebiet B mit palästinensischer ziviler Kontrolle und gemeinsamer israelischer-palästinensischer Sicherheitskontrolle
  • Gebiet C mit vollständiger ziviler- und Sicherheitskontrolle Israels

Den Friedensgesprächen zwischen den Parteien folgten in den kommenden Jahren mehrere Verhandlungen, aber bislang wurde kein finales Friedensabkommen geschlossen. So blieben eine Reihe von Fragen wie die Sicherheit, die Festlegung der Grenzen, die Kontrolle über die Stadt Jerusalem oder die Situation der Flüchtlinge ungelöst.

 

Mutmaßliche Verbrechen

GAZA KONFLIKT 

Der Konflikt in Gaza zwischen dem 7. Juli und 26. August 2014 führte zu einer hohen Anzahl ziviler Opfer und zu massiver Vertreibung. Laut verschiedener Quellen wurden mehr als 2.000 Palästinenser, darunter 1.000 Zivilisten, und 70 Israelis umgebracht und mehr als 11.000 Palästinenser und bis zu 1.600 Israelis verletzt.

Allerdings weichen die berichteten Zahlen verschiedener Quellen von der Gesamtanzahl der Opfer und dem Anteil ziviler zu militärischen Opfer ab.

Der Konflikt hatte außerdem signifikante Auswirkungen auf Kindern. So wurden Berichten zufolge mehr als 500 Kinder getötet und mehr als 3.000 palästinensische Kinder sowie rund 270 israelische Kinder während des Konflikts verletzt.

Mutmaßliche Taten, die von Mitgliedern palästinensischer bewaffneter Gruppen begangen wurden:

  • Mutmaßliche Angriffe auf Zivilisten: Während des Konflikts 2014 schossen palästinensische bewaffnete Gruppen mutmaßlich Steine und Mörsergranaten Richtung Israel einschließlich ziviler Gebiete
  • Mutmaßlicher Missbrauch von schutzbedürftigen Personen als Schutzschild: Palästinensische bewaffnete Gruppen führten Angriffe direkt von oder aus der Nähe von Gebäuden wie Schulen, Krankenhäusern oder Hotels, in denen sich gegenwärtig Zivilisten aufhielten, durch. Palästinensischen bewaffneten Gruppen wird außerdem vorgeworfen solche Gebäude für militärische Zwecke wie für die Lagerung von Waffen und Munition benutzt zu haben.
  • Mutmaßlicher Missbrauch von Personen, denen vorgeworfen wurde zu kollaborieren: Es wird behauptet, dass Mitglieder der AL Qassam Brigades und des Geheimdiensts der Hamas (ISF) mindestens 20 palästinensische Zivilisten, denen vorgeworfen wurde mit Israel zusammenzuarbeiten, zwischen dem 5. und 23. August 2014 umgebracht haben (einige davon öffentlich).

Mutmaßliche Taten, die von Mitgliedern der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) begangen wurden:

  • Mutmaßliche Angriffe auf Wohnhäuser und Zivilisten: Es wird behauptet, dass die IDF mehrere Luftangriffe auf Wohnhäuser verübten, wodurch Bewohner verletzt und getötet, sowie Familienhäuser zerstört wurden. Die am schwersten getroffenen Gebiete waren unter anderem die Shuja’iya Nachbarschaft, Khan Yunis und Khuza’a. Es wird außerdem behauptet, dass während einer Bodenoperation in der Shuja’iya Nachbarschaft auf Zivilisten geschossen wurde, als diese versuchten das Gebiet zu verlassen. Zwischen dem 1. und 4. August 2014 kamen zudem im Zuge der massiven Bombardierung des Rafah Gebiets durch die IDF Berichten zufolge mehr als 100 Zivilisten ums Leben.
  • Mutmaßliche Angriffe auf medizinische Einrichtungen und Personal: Berichten zufolge wurden während der Gefechte medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal von der IDF attackiert. In manchen Fällen führte dies zu signifikanten Schäden und Opfern unter sowohl Personal als auch Patienten.
  • Mutmaßliche Angriffe auf Schulen des Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA): Es wird behauptet, dass sechs UNRWA Schulen, welche als Notfallunterkunft während des Konflikts dienten, von Projektilen getroffen wurden, was zu Verletzungen und Tötungen von sich in der Unterkunft aufhaltenden Personen führte.
  • Mutmaßliche Angriffe auf andere zivile Objekte und Infrastrukturen: Aufgrund ihrer Nähe zu Angriffszielen oder aufgrund direkter Angriffe durch die IDF, wurde verschiedenste zivile Infrastruktur zerstört (so wie Wasserinstallationen, Gazas Kraftwerk, landwirtschaftliche Flächen oder Moscheen).

WESTJORDANLAND UND OST-JERUSALEM

Mutmaßliche Siedlungsaktivitäten:

Berichten zufolge leitet die israelische Regierung die Planung und Konsolidierung der Siedlungen im Territorium des Westjordanlands mittels der Implementierung von Gesetzen, Politiken und physischen Maßnahmen wie der Konfiszierung von Land, der Zerstörung palästinensischen Eigentums und Zwangsvertreibung von Anwohnern, indem Palästinensern Bewegungseinschränkungen[3] auferlegt werden. Gemäß offiziellen israelischen Zahlen wurde 2015 erklärt, dass mehr als 62.000 Hektar des Westjordanlands dem Staat Israel angehörten. Daten zufolge, die von der NRO Peace Now veröffentlicht wurden, trieben israelische Behörden Pläne für insgesamt 2.623 neue Wohneinheiten im Westjordanland und Ost-Jerusalem, einschließlich 756 rückwirkender Genehmigungen für unautorisierte Baumaßnahmen, zwischen Januar und August 2016 voran.

Im gleichen Jahr zerstörte die israelische Regierung 531 Gebäude palästinensischen Eigentums im Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem, was zur Vertreibung von 688 Menschen führte (laut Daten veröffentlicht vom Büro für die Koordinierung von Humanitären Angelegenheiten der Vereinten Nationen). Zudem wurden zwischen dem 1. Januar und 31. Juli 2016 mehr als 889 Palästinenser durch die Zerstörung von 684 Gebäuden palästinensischen Eigentums, einschließlich 110 in Ost-Jerusalem, durch israelische Behörden vertrieben.

Mutmaßliche Misshandlungen:

Dem israelischen Militärgerichtssystem wird vorgeworfen verhaftete und gefangene Palästinenser und auch palästinensische Kinder, die wegen mutmaßlicher Vergehen im Westjordanland verhört, verhaftet und gefangen genommen worden waren, misshandelt zu haben.

Mit dem Gewaltanstieg in der Region seit Anfang Oktober 2015, wurden Vorwürfe laut bezüglich gewalttätiger Angriffe, Tötungen und exzessiver Gewaltanwendung durch die israelischen Streitkräfte gegen Palästinenser.

 

Die Aktivitäten der Anklagebehörde des IStGH      

In Anbetracht der Situation, sammelte die Anklagebehörde weiterhin Informationen zu den mutmaßlichen Verbrechen, die 2014 im Gaza-Konflikt begangen wurden, sowie im Westjordanland und Ost-Jerusalem seit dem 13. Juni 2014 und beobachtete weiterhin relevante Ereignisse in der Region[4].

Basierend auf den zusammengetragenen Informationen, erfasste die Behörde mehr als 3.000 berichtete Ereignisse und Verbrechen während des Gaza-Konflikts 2014. Während der Berichtsphase arbeitete die Behörde mit verschiedenen Regierungen, NROs und zwischenstaatlichen Organisationen zusammen, um eine Reihe von für die vorläufige Untersuchung relevante Themen, zu adressieren.

Im März 2016 reiste die Anklagebehörde nach Amman, Jordanien und traf Repräsentanten der palästinensischen Regierung und palästinensische NROs und arbeitete zu verschiedenen Fragen in Bezug auf die vorläufige Untersuchung.

Vom 5. bis 10. Oktober 2016 besuchte die Anklagebehörde  Israel und Palästina, ermöglicht durch israelische und palästinensische Behörden, und mit logistischer Unterstützung des Sonderkoordinators der Vereinten Nationen für den Friedenprozess im Nahen Osten.

Mitarbeiter bestimmter Organisationen, die für die vorläufige Untersuchung relevante Informationen gesammelt hatten, so wie Al-Haq und das Al-Mezan Zentrum für Menschenrechte, erhielten Drohungen und andere Einschüchterungen, sodass der IStGH Schritte einleitete, um sicherzustellen, dass Maßnahmen ergriffen werden, um der Situation entgegenzuwirken.

 

Fazit

Nachdem die Anklagebehörde des IStGH die verfügbaren Informationen gründlich in sachlicher und rechtlicher Hinsicht beurteilt hatte, kam er zu der Schlussfolgerung, dass es eine begründete Grundlage gebe, um mit der Untersuchung der Situation in Palästina fortzufahren. So begann am 3. März 2021 eine Untersuchung auf der Grundlage von Kriegsverbrechen in palästinensischen Gebieten, die mutmaßlich seit dem 13. Juni 2014 begangen worden waren.

Diese Untersuchung ist von größter Notwendigkeit aufgrund des Ausmaßes der Zerstörung und der Gewalt, die von israelischen Streitkräften auf palästinensischem Territorium verübt worden sind. Die offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts kommen Kriegsverbrechen gleich, haben die Vertreibung von Tausenden zur Folge und führten zu einer großflächigen Zerstörung von Eigentum und Existenzgrundlagen.

Die Stimmen der Palästinenser werden durch diese Untersuchung gehört werden. Rechenschaft und Gerechtigkeit müssen folgen.

 

Position des GICJ

Das Geneva International Centre for Justice (GICJ) berichtete in den letzten Jahren von mehreren Fällen abscheulicher Verbrechen, die von Israel an Palästinensern begangen worden waren. Sie waren Opfer einer großen Reihe von Misshandlungen, einschließlich unter anderem willkürlicher Festnahmen und Tötungen, unmenschlicher Behandlung, Verweigerung medizinischer Behandlung und Einschränkung der Bewegungs- und Meinungsfreiheit.

Während der kriegerischen Besetzung, verletzte Israel durch illegale Siedlungen und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung wiederholt völkerrechtliche Regeln. Die fehlende Rechenschaft für die in Palästina begangenen Verbrechen ermöglichte, dass diese Verbrechen so lange andauern konnten.

GICJ begrüßt die Initiative des IStGH eine Untersuchung der Situation in Palästina gemäß des Rom Statuts anzustrengen und erwartet einen gerechten und langfristigen Frieden in der Region. Frieden kann erreicht werden, wenn den Opfern der Verbrechen Gerechtigkeit garantiert wird und dem palästinensischen Volk gewährt wird, sein Recht auf freie politische Selbstbestimmung auszuüben und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung in ihrem Staat Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt voranzutreiben.

GICJ ist der Meinung, dass Gerechtigkeit der wichtigste Schritt ist, um Frieden in der Region zu schaffen. Die Untersuchung des IStGH ist der erste von vielen, um Rechenschaft sicherzustellen und Gerechtigkeit zu garantieren.


[1] Statement der Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, bezüglich einer Untersuchung der Situation in Palästina, https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=210303-prosecutor-statement-investigation-palestine

[2] Die Anklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, eröffnet eine vorläufige Untersuchung zur Situation in Palästina, siehe https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1083

[3] Bericht des IStGH: Preliminary Examination Activities (2016), Seite 29 – 30 

[4] Bericht des IStGH: Preliminary Examination Activities (2016), OTP Activities, Seite 30

 

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